Seiten

23. November 2007

Ein Hauch von Wahnsinn

Abends in der Küche

"Der prähistorische Mensch verfluchte uns, betete uns an, hieß uns willkommen - wer konnte es sagen? Wir waren vom Verständnis unsrer Umgebung abgeschnitten; schwebten wie Gespenster vorbei, staunend und insgeheim entsetzt, so wie das gesunde Menschen angesichts einer begeistertungsglühenden Revolte in einem Irrenhaus wären. Wir konnten nichts verstehen, weil wir zu weit weg waren, und wir konnten uns an nichts erinnern, weil wir in der Nacht der Urzeiten fuhren, jener Zeiten, die vergangen sind, fast ohne eine Spur zu hinterlassen - eine Erinnerung gar."
Herz der Finsternis, Joseph Conrad

Nicht, dass ich das nicht nachempfinden könnte - aber Conrad geht es hier um etwas ganz anderes, denn es sind ja seine Mitmenschen, zu denen er keinen Kontakt herstellen kann. Es gibt eine Debatte im Netz darüber, ob Conrad ein Rassist gewesen sei (unter anderem auch hier ausgetragen). Das wird unter anderem an Stellen wie dieser liegen.
Das Anliegen mag seine Berechtigung haben, aber liegt das eigentlich Entsetzliche an dieser Stelle nicht viel eher darin, dass eine Abschneidung stattgefunden hat, wo eine Verbindung herrschen sollte? Und die andere Seite hat offenbar Zugang zu dieser Verbindung. Beunruhigend, nicht wahr?

22. November 2007

Namenloser Dampfer

Am Küchentisch am Abend

"Die Flagge hing schlaff wie ein Lappen herunter; die Mündungen der langen Sechs-Zoll-Geschütze ragten überall über den niedern Schiffsrumpf hinaus; das schleimige, schlammige Küstenwasser schaukelte müde das Schiff und brachte seine dünnen Masten zum Schwanken. Dort lag es in der leeren Unendlichkeit der Erde, des Himmels und des Wassers, unverständlich, und schoß auf einen Kontinent. Pumm! machte hie und da eins der Sechs-Zoll-Geschütze; ein bißchen Rauch löste sich auf, ein winziges Projektil pfiff leise - und nichts geschah. Nichts konnte geschehen. Über dem Vorgang lag ein Hauch Wahnsinn, und was man sah, hatte eine klägliche Komik."
Herz der Finsternis, Joseph Conrad

Schon wieder so ein Bild von Einsamkeit und Isolation. Die mit Leben beladenen weißen Tüpfel sind von ihrer Umgebung völlig abgetrennt. Die Narcissus, ein namenloser französischer Dampfer im eben zitierten Beispiel oder die Nellie - alle Schiffe bilden einen isolierten Mikrokosmos. Und zwischen dem Mikrokosmos und seiner Umgebung gibt es keine rationale Verbindung: Ein "Hauch von Wahnsinn" oder die "Abgründe von Himmel und See", die einander an einer unerreichbaren Grenze begegnen. Sonst nichts.

20. November 2007

Superluminares Tunneln

Am nachmittäglichen Schreibtisch

Wie schön, wenn man professionelle Ausreden für Zeitreisen hat! Ich tauche gerade wieder auf aus dem Eiszeitalter, wo ich mich den heutigen Tag mit Säbelzahnkatzen und anderen unangenehmen Zeitgenossen herumgetrieben habe.

Ich wünschte, ich könnte in einer Blase in die Vergangenheit reisen und alles mit eigenen Augen sehen!

Bei der Recherche nach einem guten Label für Zeitreisen in die Vergangenheit bin ich auf den unwiderstehlichen Ausdruck 'superluminares Tunneln' gestossen. Eine irre Bewegungsform - selbst wenn die Miesepeter das Ganze zum Artefakt der herangezogenen Definition von Geschwindigkeit erklären wollen!

19. November 2007

Aus dem Koffer leben

Spätabends am Küchentisch

"Der Rucksack ist gepackt, auch die Taschenlampe wieder im Rucksack, ebenso die Lupe, die Herr Geiser allerdings noch einmal braucht. Um zu lesen. Herr Geiser ist nicht zu Bett gegangen, obschon es Mitternacht ist. Das Klöppeln auf dem Blech hat aufgehört. Wenn Herr Geiser seinen Atem anhält, so ist überhaupt nichts zu hören, nichts als der eigene Puls. Im Kamin glimmt es noch. Herr Geiser will nicht schlafen; so viel Zeit hat der Mensch nicht -"
Der Mensch erscheint im Holozän, Max Frisch

Herr Geiser ist zum Aufbruch bereit. Das ist er schon die ganze Zeit, schon seit 88 Seiten - aber nun wird es wirklich bald losgehen.

Ich dagegen räume meinen Koffer immer ganz aus. Vor allem zu Hause. Ich will zu Hause wirklich da sein. Ich will auch an anderen Orten ganz da sein. Immer wenn ich meinen Koffer auspacke, frage ich mich, ob die anderen, die dieses Hotelzimmer vor mir bewohnt haben, das wohl auch tun - oder ob ich eines der seltenen Wesen bin, das seine Koffer auspackt.

Morgenröte

Vormittags am Schreibtisch

Na, und heute dann passend zum Aufbruch: der morgendliche Himmel voller verheißungsvoller Röte bei Tagesanbruch. Vielen Dank dafür!

18. November 2007

Schiffe, die vorüberziehen

Am Küchentisch in der Abenddämmerung

"Die Fahrt hatte begonnen, und das Schiff - ein von der Erde losgelöstes Teilchen - bewegte sich einsam und schnell wie ein kleiner Planet. Ringsherum begegneten die Abgründe von Himmel und See einander an einer unerreichbaren Grenze. Eine große, kreisförmige Einsamkeit eilte mit ihm, die sich immerfort veränderte und immerfort dieselbe blieb, stets monoton und stets imponierend. Hin und wieder erschien noch ein anderer mit Leben beladener wandernder weißer Tüpfel in der Ferne und verschwand, eifrig seiner eigenen Bestimmung folgend."
Narcissus, Joseph Conrad

Aneinander gekettet, auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden - jedenfalls solange die Reise dauert. Und von allem anderen abgeschnitten.
Das ist so ganz anders, als das Reisen eigentlich sein sollte. Woanders hinkommen, neue Menschen, neue Länder sehen, neue Dinge kennenlernen.

Aufbruch

Am Küchentisch im Morgengrauen

"In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeutete. Er wußte nichts und hatte nichts gehört."
Der Aufbruch, Franz Kafka


Jetzt geht es also los! Bei einer Reise ist der erste Schritt der schwerste, ist er aber erst einmal getan, geschieht alles andere von selbst.