In der Abenddämmerung am Küchentisch
"Dann gab es also keinen anderen Weg in die Zukunft als den, den Wald an seinem Rande zu verlassen, falls es überhaupt ein Ende des Waldes gab und sich alsdann der glühenden Leere, dem bösen "Draußen" anzuvertrauen. Jenes Ungeheuer, die Sonne mußte aufgesucht und bestanden werden. Denn - wer weiß? - am Ende war auch die uralte Lehre von der Furchtbarkeit der Sonne nur so eine Lüge!"
"Und vor dem zitternden Waldmann lag entschleiert das "Draußen". Vor seinen Füßen stürzte der Berg hinab bis in unkenntliche rauchende Tiefen, gegenüber sprang rosig und juwelenhaft ein Felsgebirge empor, zur Seite lag fern und riesig das dunkle Meer, und die Küste lief weiß und schaumig mit kleinen nickenden Bäumen darum her. Und über dies alles, über diese tausend neuen, fremden gewaltigen Formen zog die Sonne herauf und wälzte einen glühenden Strom von Licht über die Welt, die in lachenden Farben entbrannte."
"Auf Händen und Füßen kletterte Kubu den steilen Abgrund hinab, dem Licht und dem Meere entgegegen, und über seine Seele zitterte in flüchtigem Glücksrausch die traumhafte Ahnung einer hellen von der Sonne regierten Erde, auf welcher helle, befreite Wesen im Lichte lebten und niemand untertan wären als der Sonne."
Der Waldmensch, Hermann HesseEine weitere Variante der Erzählungen über die Menschwerdung. Hesse hat sie 1914 geschrieben - zu einer Zeit also, in der ausschließlich Neandertaler-Fossilien aus Europa und
Pithecanthropus-Fossilien aus Java bekannt waren. Die ersten 'afrikanischen Südaffen' harrten noch ihrer Entdeckung. Auch der Peking-Mensch war noch nicht hervorgetreten. Das älteste bekannte Fundstück, der aufgerichtete Affenmensch, stammte von Trinil. Es ist im Jahr 1891 gefunden worden. Auf der Weltausstellung in Paris im Jahr 1900 wurde erstmals eine plastische Rekonstruktion dem staunenden Publikum in Europa präsentiert. Der Maler Gabriel Max schuf ein Gemälde (
hier rechts zu sehen) - vermutlich eine der frühesten Rekonstruktionen fossiler Menschen überhaupt.
Wenn Hesse also über Kubu schrieb, dann muß er an ein Wesen, wie das abgebildete gedacht haben. Kubu hat uns, den "hellen, befreiten Wesen, die im Lichte leben", eine mächtige Bürde hinterlassen. Nachdem er den ersten Schritt aus dem Wald heraus getan hat, ist seine Erwartung an die Zukunft und damit an uns, dass von nun an alles besser, jedenfalls lichter wird.
Naturgeschichtlich hat Hesse aller Wahrscheinlichkeit nach komplett falsch gelegen. Die Sache mit "aus dem Wald" war längst erledigt, als der
Pithecanthropus in Java lebte. Das haben seine afrikanischen Vorläufer mehrere Millionen Jahre zuvor bewerkstelligt. Am Waldrand, an dem Kubu mit einer Liane festgebunden und so vor dem Absturz bewahrt eine Nacht zubrachte, haben sie vermutlich viele hundertausend Jahre gelebt. Um das beste von beiden Seiten zu geniessen.
Um überhaupt nach Java zu gelangen, mußten Kubus Vorfahren in einer Vielzahl unterschiedlicher Lebensräume ihr Auskommen finden. Aber das wahrhaftig Interessante an Kubu und seinen Verwandten ist, dass sie vermutlich wieder zurück in den Wald gegangen sind - viel früher, als man bislang dachte. Da haben die "hellen, befreiten Wesen" dem Wald und ihrer Vergangenheit so gründlich den Rücken gekehrt, dass sie es fast nicht bemerkt hätten ...