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14. Februar 2008

Hessen und die Welt

Nächtens am Küchentisch

"Entscheidend aber ist, daß Hessen ein Ort des Durchgangs ist, Völkerwanderungen und Kriegsbewegungen stapften hier durch, von Ost nach West und später mehr von West nach Ost, von Süd nach Nord und umgekehrt, aber nie war Hessen das Ziel, nie ist heute noch Hessen das Ziel, in Gießen an der Lahn war das letzte Durchgangs- oder Auffanglager für DDR-Flüchtlinge, aber für die war Gießen nie das Ziel, so wie Hessen nie das wirkliche Ziel ist derer, die hierherkommen und unsere Sprache verachten und unseren Dialekt furchtbar finden und über unseren Apfelwein lachen und über die Küche und darüber, daß selbst Goethe Hessen verlassen hat, so wie Büchner geflüchtet ist aus Gießen nach Zürich, um dort zu sterben.
Hessen ist Transitland, ist eine virtuelle Region, eine Cyber-Heimat vor der Erfindung der Elektronik. Es ist deshalb so unheimlich wie eine Poststation an einer wichtigen Wegkreuzung irgendwo im einsamen Land des amerikanischen Wilden Westens. Hessen haben einen Blick dafür, daß eigentlich niemand zu ihnen will, daß aber die Nacht und die Kälte und der Hunger es erzwingen, die Reise zu unterbrechen. Daher dieser mißtrauische Hessenwitz, schadenfroh bis in die Knochen, hier weht Häme mit im trauten Kneipengespräch. (...)
Das Hessische ist die Mentalität des verlorenen Subjekts, aber es juckt uns nicht, daß wir so unbedeutend sind. Die Hessen durchschauen vielleicht nicht die Geheimnisse der Welt, aber sie erahnen etwas von der Sinnlosigkeit des Hin- und Hergewanders. Die Sturheit und manchmal sogar Dummheit, die uns andere andichten, ist unser Weg des Widerstandes."
Transitland im Mittelpunkt, Matthias Beltz

"Hessen verstehen kann nur derjenige und auch nur diejenige, die die ethnische Sondersituation Hessens kennen. Die Hessen sind umzingelt von lauter Deutschen, haben keinen Zugang zum Meer, zu den Alpen und zum Ausland und daher keinen direkten Kontakt zur Freiheit. Wer Hessen besuchen will, muß vorher durchs Fegefeuer der deutschen Autobahn-, Eisenbahn- oder Flughafenkultur. Nur wenige, die hierherkommen, werden hier seßhaft. Das war schon während der Völkerwanderung so: Alle Völker der Welt sind durch Hessen getrampelt, keins wollte bleiben, was ich verstehen kann, aber die silbernen Löffel haben sie immer gern mitgenommen. Darum ist der Hesse mißtrauisch von alters her, er weiß, er kommt grundsätzlich zu kurz. (...)
Wir Hessen sind nicht stolz, Deutsche zu sein, wir sind stolz, gemein zu sein. Rache ist Blutwurst, sagen wir Hessen, und verhohnepiepeln so den Zusammenhang von Blutdurst und Blutwurst. Nationale Identität, fragen wir, ja braucht man so was, wenn der Kühlschrank voll ist?
(...) Hesse sein heißt, gefährlich leben wollen zu müssen."
Der gemeine Hesse, Matthias Beltz

Ein ganz Großer, der uns furchtbar fehlt und den wir hier noch gut hätten brauchen können! Hier gibts mehr von ihm.