Dunkelheit in der Pariser Cité
Lambert hat Konkurrenz in puncto U-Bahn-Philosophie bekommen. Ausgelöst durch den wahlgetakteten Schwachsinn, den der derzeitige hessische Ministerpräsident verbrät, ist das Thema U-Bahn auch daheim gewaltig im Kommen. Von hier aussen betrachtet sieht das genau so aus, wie man es erwarten könnte: ein Sturm im Wasserglas. Und mit erstauntem und ratlosem Stirnrunzeln nehme ich zur Kenntnis, welche Wellen das Thema zu Hause gegenwärtig schlägt.
Wie auch immer, Jens Jessen, Kulturredakteur der Zeit, verwendet das Thema für eine Polemik gegen intolerante, deutsche Senioren, die mit ihrer aufdringlichen und besserwisserischen Erziehungsbereitschaft nur allzuoft selbst die Keimzelle für Aggressionen sind. Damit spricht er mir aus tiefstem Herzen! Jeder kann da was aus eigener Erinnerung beisteuern. Mir erinnerlich ist der Typus, der, wenn er aussteigen will, die auf dem Bahnsteig Wartenden anherrscht "Erstmal aussteigen lassen!"; will er aber gerade nicht aus-, sondern einsteigen, dann lässt sich das auch beliebig umkehren. In besonderer Erinnerung ist mir ein Zwischenfall in einem Wiesbadener Bus, in dem der Griff eines Stockschirms um meine Kehle mich am Hinsetzen hinderte, weil ich übersehen hatte, dass hinter mir noch ein amoklaufender Senior den Bus bestiegen hatte. Jens Jessen's Beitrag ist durchweg sehenswert und hier zu finden.
Micha Brumlik geht es zwar eigentlich um das Thema 'Jugendgewalt'; da das ganze Drama aber nunmal im öffentlichen Personennahverkehr aufgeführt wird, nimmt er dies zum Anlaß, sich darüber Gedanken zu machen, warum die U-Bahn sich denn eigentlich dafür so anbietet. U- und S-Bahn-Passagiere (oder 'Transportfälle' in der Diktion der Versorgungsbetriebe) sind demnach Orte, an denen Menschen gezwungen sind, längere Zeit kommunikationslos, dit: anwesend, aber nicht ansprechbar, miteinander zuzubringen. Zeitunglesen ist dabei eine Abschottungsmassnahme, die Neuorganisation persönlicher Datenmenge via Handy oder MP3-Player eine andere. Brumliks vollständiger Artikel findet sich hier.
Glücklicherweise ist das in der Pariser Métro etwas anders. Zwar sind hier auch viele mit Lesen beschäftigt, weitaus mehr telefonieren aber mit dem Handy. Vielleicht sind sie dann nicht vollständig im Hier und Jetzt des Métro-Wagens; allerdings ist Telefonieren nach meinem Empfinden immer noch weniger autistisch, als sich die akustische Wahrnehmung mit Kopfhörern zuzumüllen oder permanent an der Handy-Tastatur herumzufummeln. Was ja eigentlich schon wieder absurd ist. Immerhin geht es beim Handy ja ums Kommunizieren. Um einen meiner Lieblingsprofessoren zu zitieren: "Es gibt Leute, die reden den ganzen Tag, ohne dass sie was zu sagen hätten. Es handelt sich hierbei um kommunizierende Hohlräume." Vielleicht ist das alles aber auch altersabhängig.
Auf meiner Suche nach weiteren U-Bahn-Philosophen bin ich unerwartet auf einen WISO-Beitrag von Ulrich Kienzle gestossen, in dem er die Berliner U-Bahn mit der Pariser Métro vergleicht. Das Ganze gerät ihm unversehens zu einer Liebeserklärung an die Métro. Da muss Lambert sich jetzt allerdings mächtig ins Zeug legen.